Die Liebesbeziehung zwischen Hanna und Michael (Entwicklung )

Wer das Buch Der Vorleser von Bernhard Schlink aufmerksam verfolgt, dem wird nicht entgangen sein, dass die Liebesbeziehung zwischen Hanna und Michael im Verlaufe des Buches viele Veränderungen durchmacht. Diese sind zum Einen von einer Entwicklung, bedingt durch das Erwachsen werden, gekennzeichnet, zum Anderen sind sie auch durch die ungewöhnliche Art der Liebesbeziehung bedingt.

Die Beziehung verändert sich auch im Laufe der Teile sehr stark. Darum werde ich die Beziehung der Beiden zunächst Abschnitt für Abschnitt analysieren und sie dann noch einmal im Längsschnitt abschließend betrachten.

Teil 1

Michael verliebt sich in Hanna, als er bei ihr zu Besuch ist um sich bei ihr für ihre Hilfe zu bedanken. Sie zieht sich auf erotische Weise ihre Strümpfe an und diese Handlung bleibt ihm noch sehr lange und nachhaltig im Kopf. Er ist so verliebt, dass er sogar die Schule schwänzt um bei ihr zu sein ( Seite 44).

Gemeinsam pflegen sie regelmäßige Treffen, die immer nach festen Ritualen ablaufen. Michael badet oder duscht mit ihr, er liest ihr ein Buch der Weltliteratur vor und sie haben sexuellen Kontakt. Seite 45. Dabei nimmt sie zunächst von ihm Besitz ( so drückt er sich aus ) Seite 33. Hier zeigt sich klar, dass sich die Beziehung zunächst nur nach Hanna und ihren Bedürfnissen ausrichtet. Seine Wünsche kommen erst viel später, nachdem er gelernt hat sich in der Welt der Sexualität zurecht zu finden, zum Tragen. So reitet sie auch auf ihm Seite 33 und nennt ihn "Mein Jungelchen" Seite 35. Das ist zum Einen eine Verniedlichung, zum Anderen drückt dies aber auch ihre Dominanz ihm gegenüber aus.

Die Beziehung bekommt erste Risse, als es zu einem ersten ernsten Streit kommt. Michael schwänzt die Schule um bei ihr zu sein, er sieht keinen wirklichen Sinn mehr im Besuch, weil er ja so lange krank war und das Jahr nur noch sechs Wochen hat. Hanna ist außer sich vor Wut und schickt ihn wieder in die Schule - wo er das Schuljahr auch erfolgreich beendet. Seite 36

Weitere Streitigkeiten kommen auf, als Michael Hanna am ersten Tag der Osterferien auf ihrer Arbeitsstelle besucht. Hier ist Hanna sehr abweisend zu ihm und er kann mit dieser Zurückweisung nicht gut umgehen. Er weint. Zudem äußert sie sich erniedrigend ihm gegenüber " Du kannst mich nicht kränken. Du nicht." Seite 49.

Michael erkennt, dass ein Verlieren des Streits auch ein Machtverlust innerhalb der Beziehung ist und das Michael in der Beziehung der Unterlegene ist Seite 50.

Die Beziehung durchbricht den Rahmen ihrer abgeschiedenen ritualisierten Normalität und das Paar begibt sich auf eine Reise mit dem Rad. Dies verändert auch die Beziehung, denn im Laufe der Reise übernimmt Michael die Führung der Reise. Er hat die Verantwortung für die Route und die Orte, welche sie besuchen.

Gegen Ende der Krankheit beginnt sich Michael zusehens zu emanzipieren und dieser Prozess vollzieht sich stärker, als mit dem neuen Schuljahr auch Mädchen in seine Klasse kommen. In dem Moment wo er wieder Kontakt zu Gleichaltrigen hat beginnt er sich von Hanna ab zu nabeln, die das scheinbar auch spürt. Dieses Abnabeln und das Verschlechtern der Beziehung beschreibt er als Gleitflug der Beziehung Seite 67, Dennoch bleibt das ritualhafte ihrer Treffen unverändert.

Teil 2

Im zweiten Teil beginnt sich die Beziehung zwischen Hanna und Michael zu wandeln. Hanna war ja auf einmal verschwunden und lies einen verwirrten, trauernden und suchenden Michael zurück. Dieser brauchte eine sehr lange Zeit, um über den Verlust von Hanna hinweg zu kommen. Diese hat sich ja sehr plötzlich und ohne Angabe von Gründen aus dem Staub gemacht. Doch es gelingt Michael nach einer Phase der Ablösung ein neues, von Hanna unabhängiges Leben zu beginnen.

In diesem lässt ihn die Beziehung unterbewusst dennoch nicht los. Die Folgen sind nach wie vor für ihn spürbar, denn er ist anderen Frauen und Mädchen gegenüber kalt und abweisend.

Es kommt zu einer überraschenden Wiederbegegnung. Diese vollzieht sich im Gerichtssaal in welchem er als Beobachter dem KZ- Prozess beiwohnt. Hier betrachtet er Hanna aus einer Distanz, fast schon professionell. So ist es ihm auch nicht fremd, dass sie für ihre Verbrechen ins Gefängnis müsste, im Gegenteil am Beginn des Prozess empfindet der dies sogar als angemessen und gerecht.

In diesem Teil sieht er Hanna zwar aus der Distanz, ist aber noch nicht ganz frei von Gefühlen. Es beschäftigt ihn immerhin so sehr, dass jeden Prozesstag aktiv verfolgt und den Weg zum Gerichtssaal - immerhin eine Stunde Autofahrt - in Kauf nimmt.

In diesem Teil ist nichts mehr von der einst vorhanden sexuellen Spannung zu lesen oder von den liebevollen Gefühlen. Dennoch übernimmt Michael Verantwortung für Hanna und setzt sich für sie ein, als er bemerkt, dass sie nicht lesen und schreiben kann. Es ist ihm so wichtig, dass sie Gerechtigkeit erfährt, dass er sogar den Richter aufsucht, um diesen von Hannas Analphabetismus zu berichten.

Teil 3

Im dritten Teil ändert sich das Verhältnis wieder einmal komplett. Während Michael im zweiten Teil fast ausschließlich distanziert und passiv war, ändert sich das nun. Er sucht wieder aktiv Kontakt zu Hanna indem er ihr Kassetten aufnimmt auf welche er die Werke der Weltliteratur einliest. Er hält den Kontakt zwar aufrecht, belässt diesen aber auf einer oberflächlichen Ebene. Er möchte nicht mal den Briefen antworten, die Hanna ihm mühsam und stolz zu kommen lässt.

Ihm behagt die neue Beziehungsebene auch genau so lange bis es dazu kommt, dass sie möglicherweise ein Teil seines realen Lebens werden könnte. Während Hanna im Gefängnis ist ist sie für ihn zwar da, aber dennoch weit weg. Der Kontakt ist auf einige Nachrichten beschränkt, die er auch selbst steuern kann. Als sie aber entlassen werden soll und sich die Direktorin des Gefängnis an sie wendet, da bekommt der Kontakt zu ihr plötzlich den Aspekt, dass sie zum Teil seines realen Lebens werden könnte. Hier macht sich Unbehagen breit.

Trotz des inneren Widerstandes macht sich Michael aber dennoch auf den Weg und ist bereit Hanna zu helfen. Erst nach ihrem Tod wird ihm klar, dass er eigentlich noch immer Gefühle für sie hegt und das er sie vermisst. Er beginnt zwar nach ihrem Tod ein neues Leben, lebt auch ohne sie weiter, jedoch ist sie immer ein Teil von ihm. Seine späteren Freundinnen und Partnerinnen müssen alle ein wenig wie Hanna sein, damit er sie überhaupt lieben kann.
Um ihren letzten Willen zu erfüllen begibt er sich sogar um die halbe Welt und reist nach New York.